Einerseits wird über Work-Life-Balance gesprochen und die Wichtigkeit dieser Balance für das seelische Wohlbefinden, die Motivation und die Leistungsfähigkeit von Beschäftigten betont. Andererseits wird immer öfter argumentiert, das Leben sei doch ganzheitlich zu betrachten, so etwas wie Work-Life-Balance ein Irrtum, weil damit künstlich etwas getrennt werde, was nicht zu trennen sei. Zudem würde der Begriff etwas Fatales suggerieren: Es gehe entweder um Arbeit oder um Freizeit. Arbeit sei in dieser Rechnung etwas Schlechtes, eben etwas, das man tun „muss“ und für das es einen Ausgleich (das schöne, gute Privatleben) brauche. Umfragen zeigen aber auch, dass Work-Life-Balance mit zu den wichtigsten Kriterien bei der Wahl des Arbeitgebers gehört.

Was denn nun: Work-Life-Balance – (k)ein Irrtum?!

Auch ich selbst grenze Arbeit und Privatleben längst nicht mehr strikt voneinander ab. Ich begrüße die Durchlässigkeit und die damit gewonnene Flexibilität sogar. Als Freiberufler kann ich selbst bestimmen, wo und wann ich arbeite. Das kann gern einmal am Sonntag sein – im Pyjama, mit dem Latte Macchiato auf dem Schreibtisch, einer inspirierenden Idee im Kopf und Lust darauf, ein neues Workshop- oder Vortragskonzept zu entwickeln. Das erlebe ich nicht als harte Plackerei, sondern als lust- und freudvoll. Nach Arbeit fühlt es sich nicht an. Work ist also nicht immer blöd, kann es aber sein. Gerade dann braucht es einen bewussten Umgang mit sich selbst und seiner Zeit.

Entgrenzung und Sinnentleerung braucht unterschiedsbildende Konstrukte

Wir leben in einer globalisierten Welt. Diese Welt geht einher mit Effizienzbestrebungen, Flexibilisierung, Arbeitsverdichtung und Beschleunigung. Es wird immer öfter Arbeit „für den Papierkorb“ produziert, weil sich die Anforderungen selbst überholen. Der einzelne Mitarbeiter wird sich seiner Austauschbarkeit zunehmender bewusst. Dazu tragen befristete Verträge ebenso ihren Teil bei wie die Verlagerung von Produktionsstandorten ins Ausland, weil dieselbe Arbeit dort billiger erledigt werden kann. Wer gute Arbeit leistet, sichert sich damit nicht mehr zwangsläufig den eigenen Arbeitsplatz.

Wo Effizienz zu immer mehr Druck führt, steigt zudem die Wahrscheinlichkeit für egoistisches Verhalten des Einzelnen nach dem Motto „Rette sich wer kann“ – Investitionen in die Gemeinschaft werden unwahrscheinlicher.

Nicht verwunderlich also, dass immer mehr Menschen angeben, sie würden den Sinn ihrer Arbeit vermissen oder beklagen, dass wichtige Grundbedürfnisse am Arbeitsplatz nicht mehr erfüllt seien.

Die Anforderungen steigen, die „Belohnungen“ (und damit sind nicht allein die materiellen gemeint) halten nur schwerlich mit. Wer seine Arbeit so erlebt, dass er ständig investiert, aber kaum etwas zurückerhält, wird auf Dauer nicht nur unzufrieden, sondern krank.

Dann kann Work-Life-Balance helfen. Auch deswegen, weil unsere Wahrnehmung über Unterschiede organisiert ist. Ich spüre die Berührung einer Hand auf meinem Arm. Bleibt dieselbe Hand eine Zeitlang dort liegen, nehme ich den Unterschied nicht mehr wahr. Wer also kreuzunglücklich in seiner Arbeit ist, für den ist es sehr wohl hilfreich und wichtig, Arbeit von Privatem zu unterscheiden. Die Notwendigkeit für gezielte Work-Life-Balance ist überall dort besonders stark, wo Menschen das Gefühl haben, viel leisten zu müssen und gleichzeitig den Eindruck haben, nicht autonom entscheiden und agieren zu können. Dann kann die bewusste Gestaltung der Balance dazu beitragen, Ressourcen aufzutanken und wieder „Gewinnspiralen“ zu erzeugen. Zum Beispiel, weil man in Beziehungen zu lieben Freunden oder die Familie investiert, etwas für den eigenen Körper tut oder in der Badewanne liegend das eigene Wissen über die neuesten Schuh- und Taschentrends (wahlweise über Transfers wichtiger Fußballspieler oder neueste Automodelle) auffrischt.

Work-Life-Balance als zweitbeste Lösung

Wer sich einbildet, er könnte die Rahmenbedingungen moderner Arbeit mal eben verändern, kann – positiv formuliert – als Idealist bezeichnet werden. Man könnte so jemanden aber auch als größenwahnsinnig bezeichnen. Wer in abhängiger Beschäftigung steht und seinen Lohn braucht, der wird sich aus guten Gründen überlegen, ob er die Unternehmensspielregeln lautstark hinterfragt oder nicht lieber nach ihnen spielt. In dem Bewusstsein, dass eine neue Struktur und ein neues Verständnis von Arbeit und Arbeitsbedingungen so etwas wie eine „erstbeste“ Lösung wäre, kann das Nachdenken über Work-Life-Balance als „zweitbeste“ Lösung verstanden werden. Das ist dann aber keine schlechtere Lösung. Eher eine pragmatische und realistisch umsetzbare! Work-Life-Balance stellt dann einen Beitrag dar, die eigene Unabhängigkeit zu erhöhen, indem in einer Welt, die sich nach fremdbestimmtem Hamsterrad anfühlt, Investitionsentscheidungen bewusst getroffen und Wahlfreiheiten überhaupt wieder eingeführt werden.

Drei clevere Ansatzpunkte zur Erweiterung der eigenen Handlungsoptionen

1) Verändern Sie Ihren Blickwinkel!
Machen Sie sich klar, welchen Zweck ihre Arbeit für Sie erfüllt. Als Ort ganzheitlicher Selbstverwirklichung (nach dem Motto „Mein Job ist sinnvoll, Spaß macht er mir auch, ich kann mich weiterentwickeln und die Beziehungen zu meinen Kollegen und Chefs sind astrein.“) eignet sich der Arbeitsplatz nur in Ausnahmefällen. Das an sich ist kein Problem. Am Arbeitsplatz geht es primär um die Erfüllung von Aufgaben. Wer dadurch einige wichtige Bedürfnisse erfüllt sieht, wunderbar! Wer nicht, sollte umso bewusster entscheiden, wo er investiert und wo nicht.

2) Treffen Sie sehr bewusste Investitionsentscheidungen!
Entscheiden Sie sehr bewusst, wo Sie investieren und wo nicht. Das gilt im Großen (Wie viel Zeit wollen Sie in Arbeit investieren, wie viel Zeit in andere Dinge wie das Zusammensein mit Familie und Freunden oder auch die Pflege von Hobbys?), aber auch im Kleinen (Lohnt es sich, noch weitere Zeit in eine bestimmte Aufgabe zu investieren bzw. muss die E-Mail heute noch beantwortet werden?).
Diese Investitionsentscheidungen müssen im Übrigen auch all jene treffen, die ihre Arbeit lieben und sie als natürlichen Teil des Lebens sehen, denn wer an einer Stelle investiert, kann es gleichzeitig nicht an anderer Stelle tun. Offene Rechnungen und Schuldscheine kann man überall anhäufen.

3) Werden Sie Grenzgänger und pfeifen Sie auf die Spielregeln – zumindest in Maßen!
Machen Sie mehr von dem, was Sie tun wollen anstelle das zu tun, von dem Sie glauben, dass Sie es tun sollten. Testen Sie bewusst aus, was gerade noch akzeptiert wird und was nicht: Was dürfen Sie in Ihrer Organisation ungestraft tun oder unterlassen? Das ist keine Anstiftung, Spielregeln vollkommen zu missachten (Wer als Feldspieler im Strafraum Hand spielt, braucht sich nicht zu wundern, wenn es einen Strafstoß gibt!). Meist sind die eigenen Handlungsspielräume jedoch sehr viel größer als man glaubt.

Ein sicher extremes Beispiel ist eine liebe Kollegin von mir. Ihr Mann und sie träumten schon lange von einer mehrmonatigen Reise durch Asien. Lange haben Sie ihre Chefs nicht gefragt, weil sie vermuteten, „das wird ohnehin nichts“. Was soll ich Ihnen sagen: Irgendwann haben sie es doch gewagt. Vier Monate reisten sie durch Asien und hatten wohl eine der besten Zeiten ihres Lebens.

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