Psychische Belastungen werden nicht nur deshalb häufig bei der Risikobeurteilung vernachlässigt, weil sie als wichtiger Gesundheitsfaktor noch nicht vollständig akzeptiert sind, sondern weil sie eine große Herausforderung darstellen. Das gleichermaßen Wunderbare als auch Komplizierte an unserer Psyche ist: sie steckt in uns und kann nicht wie Fieber, Bluthochdruck oder Sehschwäche mit einfachen Mitteln untersucht werden. Jeder Mensch reagiert auf ver-schiedene Faktoren im Arbeitsleben ganz unterschiedlich – was für den einen ein positiver Belastungsfaktor ist, der zu produktivem Eustress und einem Gefühl von Sinnhaftigkeit und Wertschätzung führt, kann für den anderen in seiner aktuellen Situation und den vorhandenen Umgebungsfaktoren eine unangenehme Belastung sein, die negativen Stress, Unbehagen und Überforderung verursacht und weitere Beanspruchungsfolgen nach sich zieht. Was also tun, um zu ermitteln, wie es den eigenen Mitarbeitern, Kollegen oder Führungskräften so geht?
Psychische Befindlichkeiten durch geeignete Instrumente messbar machen!
Die gute Nachricht: Die Forschung zu diesem Thema ist mittlerweile sehr umfangreich und es gibt verschiedene Ansätze und Instrumente, um die Komponenten der psychischen Belastung, Beanspruchung und deren Folgen zu analysieren und zu bewerten (zur Unterscheidung von Belastung und Beanspruchung mehr in unseren FAQs zur Psychischen Gefährdungsbeurteilung). Das Arbeitsschutzrecht verpflichtet Sie als Unternehmen zwar zur Handlung – lässt Ihnen bei der Wahl der Methoden zur Ermittlung der psychischen Belastung jedoch einen großen Spielraum. Es gibt keinen allgemeingültigen Königsweg, an den Sie sich stupide halten können. Das hat aber auch den Vorteil, dass Sie jede Beurteilung genau auf Ihren Bedarf zuschneiden und optimal gestalten können.
Diese Freiheiten sind bemerkenswert, sie erfordern von Unternehmen jedoch auch eine sorgfältige Auswahl der Instrumente und ein gewisses Maß an Expertise. Entscheidend für die Auswahl der geeigneten Instrumente für die Gefährdungsbeurteilung ist in jedem Fall eine klar definierte Fragestellung.
Welchen konkreten Bereich möchten Sie erfassen?
Was ist Ihnen ein besonderes Anliegen?
Nur so können Sie geeignete Mittel für Ihre Erhebung auswählen und feststellen, welcher Umfang der Untersuchung auch der Komplexität Ihrer Fragestellung entspricht. Außerdem sollte man bei der Auswahl der Verfahren darauf achten, dass sie den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen und die psychometrischen Gütekriterien bekannt und ausreichend erfüllt sind. Denn nur dann kann man objektiveObjektivität: Die Objektivität von Fragen oder Messverfahren ist gegeben, wenn die Antworten bzw. Messwerte unabhängig vom Interviewer bzw. Prüfer sind., reliable (zuverlässige)Reliabilität: Die Reliabilität ist die Zuverlässigkeit einer Messung, d. h. die Angabe ob ein Messergebnis bei einem erneuten Versuch bzw. einer erneuten Befragung unter den gleichen Umständen stabil ist. und valide (inhaltlich genaue)Validität: Die Validität gibt die Eignung eines Messverfahrens oder einer Frage bezüglich ihrer Zielsetzung an. Eine Messung oder Befragung ist valide, wenn die erhobenen Werte geeignete Kennzahlen für die zu untersuchende Fragestellung liefern. Schlussfolgerungen aufgrund der Ergebnisse ziehen. Dieser Punkt ist aus meiner Sicht deswegen besonders betonenswert, weil ein neues Thema natürlich jede Menge Menschen anzieht, die schnelles Geld verdienen wollen und irgendein Instrument auf den Markt hauen, das bei genauem Blick jedoch wissenschaftlichen Kriterien in keinster Weise stand hält!
Welche Erhebungsmethoden gibt es?
In der betrieblichen Praxis werden hauptsächlich drei methodische Ansätze genutzt:
Tätigkeitsbeobachtungen / Beobachtungsinterviews (z.B. GPB, SPA, SGA)
Fragebogenerhebungen / schriftliche Mitarbeiterbefragungen (z.B. ChEF, SALSA, IMPULS-II, Prüfliste Psychische Belastung der Unfallkasse des Bundes; COPSOQ)
Moderierte Analyseworkshops (z.B. Analyse- und Gestaltungsworkshop zur Analyse psychischer Belastung von Holm)
Die in Klammern genannten Verfahren kann ich unter wissenschaftlichen Kriterien empfehlen. In einem kurzen Leitfaden, den Sie sich downloaden können (*KLICK*), haben wir Ihnen eine Übersicht über die möglichen Methoden mit den Links zu den Instrumenten und wichtigsten Infos für Sie zusammengestellt. Die In dem Leitfaden gehen wir auch auf die unterschiedlichen Analysetiefen ein. Unabhängig davon, welches methodische Vorgehen Sie wählen, unterscheiden sich die Instrumente dahin gehend, ob Sie Ihnen eher einen Überblick verschaffen oder sehr umfassend verschiedenste Aspekte beleuchten:
Orientierend:
Diese Verfahren enthalten i.d.R. wenige, grob gerasterte Merkmale und meist nur wenige Merkmalsstufen (z.B. „eher ja“ – „eher nein“). Die Ergebnisse geben zwar erste Hinweise auf Belastungsschwer-punkte, sind aber nicht detailliert. Für die Durchführung benötigen Sie keine besondere Fachexpertise.Screening:
Diese Verfahren sind genauer, aber auch aufwendiger als orientierende Verfahren. Sie haben manchmal eine höhere Anzahl von untersuchten Merkmalen, manchmal auch bei gleicher Merkmalsanzahl eine feinere, mehrstufige Skalierung der Bewertungsmöglichkeiten aus (z.B. nie-manchmal-ständig; trifft überhaupt nicht zu – trifft eher nicht zu – teils teils – trifft eher zu – trifft völlig zu), von der ausgehend Sie mehr Ableitungen für Maßnahmen vornehmen können. Für ihren Einsatz ist zumeist eine ausführliche Einweisung bzw. Schulung der betrieblichen Nutzer notwendig. Screeningverfahren sind überwiegend Befra-gungsverfahren. Die Ergebnisse tragen zum Erkennen von Schwachstellen der Arbeitsgestaltung bei.Expertenverfahren:
Basieren auf i.d.R. auf Beobachtungsinterviews. Die Beschäftigten werden beispielsweise bei ihrer Tätigkeit von ausgebildeten Experten beobachtet und ergänzend nach möglichen Belastungsfaktoren per Interview befragt. Die Durchführung und Auswertung geschieht ausschließlich durch Experten (z.B. Psychologen). Zumeist werden die Beurteilungsstufen verbal beschrieben („Ich muss keine Fehler suchen“, „Ich entscheide, ob ein Fehler vorhanden ist oder nicht, ohne Ursachenklärung“; „Ich suche systematisch nach Fehlern. Bei vorhandenen Fehlern muss ich die Ursache vollständig aufklären“ und „Ich muss ständig Fehler bedingungsunabhängig suchen und bestimmen. In schwierigen Fällen muss ich Fehlersuchmittel wie Algorithmen entwickeln“).
Meine persönliche Einschätzung
Häufig wird ein gestuftes Verfahren empfohlen. Zunächst eine orientierende Messung mit Hilfe eines Grobanalyseverfahrens, um potenzielle Risiken abzuschätzen. In einer zweiten Phase eine vertie-fende Analyse mit Hilfe von Screeningverfahren und bei spezifischen Fragestellungen oder ermittelter Belastung ein Expertenverfahren. Meine persönliche Erfahrung: Gerade, wenn Sie aufgrund von Dokumentenanalysen (z.B. Krankenstandsanalysen) oder ähnlichen Dingen bereits Hinweise auf psychische Beanspruchungen der Mitarbeiterschaft haben, können Sie auch direkt mit einem Screeningverfahren starten. Als orientierendes Messverfahren bietet sich für mich persönlich die Prüfliste Psychische Belastung der Unfallkasse des Bundes an, da sie durch die TU Dresden einem wissenschaftlichen Qualitätscheck unterzogen wurde. Das gilt für sehr viele andere orientierende Messverfahren nicht! Deswegen ist insbesondere dann, wenn Sie tatsächlich zunächst orientierend messen wollen, besondere Sorgfalt bei der Auswahl des Erhebungsinstruments angezeigt.
Unabhängig davon, ob ein orientierendes oder ein Screeningverfahren, ob ein Befragungs- oder Beobachtungsinstrument eingesetzt wird, sollte jeder Beurteiler selbst eine Arbeitsplatzbegehung und eine Dokumentenanalyse durchführen.
Zusätzlich kann man die Instrumente danach unterscheiden, ob sie universell oder branchenspezifisch
einsetzbar sind. Branchenspezifische Instrumente können bei den zuständigen Berufsgenossenschaften bzw. Unfallkassen erfragt, oder in der Toolbox der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin recherchiert werden. Obwohl es auch von der Tätigkeit unabhängig einsetzbare Verfahren gibt, sind viele Verfahren für bestimmte Tätigkeitsklassen entwickelt worden, z.B. für überwiegend körperliche Tätigkeiten oder für überwiegend geistige Tätigkeiten.
Die Verfahren unterscheiden sich zudem darin, wo sie den Analyseschwerpunkt
legen. Einzelne Verfahren setzen explizit bei der Gestaltung von Arbeitsbedingungen an („Verhältnisprävention“). In den Beurteilungsfokus rücken in diesem Fall z.B. Merkmale der Arbeitsaufgabe und Arbeitsorganisation wie die Transparenz der Arbeitsabläufe, Kooperationserfordernisse, Rückmeldungen, Informationsdefizite, Zeitdruck oder ähnliches, aber auch Merkmale des Arbeitsplatzes und der Arbeitsumgebung (z.T. ähnlich wie bisherige Beurteilungen, bspw. Licht, Lärm). Im Gegensatz dazu stehen bei der Verhaltensprävention personenbezogene Interventionen im Vordergrund, die eine Veränderung des Verhaltens bewirken soll. Auch dafür gibt es einige Instrumente. Diese sollten nur von Experten eingesetzt werden, um die Ergeb-nisse richtig zu interpretieren. Für eine Psychische Gefährungsbeurteilung empfiehlt sich in jedem Fall der Einsatz eines Instruments zur Beurteilung der Arbeitsverhältnisse, verhaltensbezogene Beurteilungen können eventuell eine gute Ergänzung darstellen.
Welche Methode die richtige ist, hängt von den Rahmenbedingungen, Gegebenheiten, Erfahrungen und Präferenzen im Betrieb ab, sowie von Ihrer Fragestellung!
Wichtig für eine erfolgreiche psychische Gefährdungsbeurteilung ist jedoch nicht nur die Auswahl der richtigen Instrumente, sondern vor allem ein strukturiertes und durchdachtes Gesamtkonzept mit einer guten Koordination. Besonders dann, wenn Sie noch keinerlei Erfahrung in diesem Bereich haben und zum ersten Mal eine Beurteilung in Ihrem Unternehmen durchführen wollen, kann dies eine besondere Herausforderung darstellen.
Hilfreiche Tipps zur Durchführung in einem praktischen Schritt-für-Schritt Plan für einen gelungenen Start und eine erfolgreiche Durchführung finden Sie im nächsten Teil dieser Artikelserie!